Mir geht’s um die Neunzehnhundertfünfzigerjahre, die schon so viele Jahre her sind, wie das Wort lang ist. Ein noch älteres Bild habe ich im Netz gefunden, leider etwas abgerissen am Rand. Das war offensichtlich noch vor Loos (1870—1933, auch aus Brünn):
In diesem Kaffeehaus (Betonung auf der 2. Silbe „fee“: Aussprache?/i) standen die Billardtische in den hinteren Räumen, noch in diesen »meinen« Fünfzigerjahren. Vorne am Eck am Eingang war das Kusseth ein ganz normales, damals normales, eben »Wiener« Kaffeehaus. Marmortische, leichte Thonet-Stühle, Kellner und Kaffee nach österreichischer Nomenklatur auf ovalem Blechtablett mit Löffel und einem Glass Wasser. Plus italinischer cafè, denn Bozen war und ist zweisprachig. Das Kusseth, damals also Cafè Kusseth, heute vielleicht nur noch ein Hotel, aber immerhin, das ist am Bozner Musterplatz, einem westlichen Nebenschauplatz vom bekannten Waltherplatz (mit h). Die Wikipedia weiß dankenswerterweise, dass der Musterplatz mit dem in Bozen stets präsenten merkantilen Handel, also etwa der »Mustermesse«, nichts zu tun hat, sondern mit der dort stattgefunden habenden Musterung, einer »frühneuzeitlichen Funktion«, wie die Wikipedia akademisierend-verschroben wie so gern schreibt: https://de.wikipedia.org/wiki/Musterplatz_(Bozen) .
Aus den Fünfzigerjahren habe ich dieses Bild gefunden, das ich mir erlaube, hier mit Quellenangabe einzustellen:
Das Kusseth-Haus um 1955 |
Und wie sah es drinnen aus? Habe ich es noch richtig in Erinnerung?
Das Kusseth um 1935 (Deutsch war da verboten?) |
Mit den Thonet-Stühlen habe ich mich geirrt. Die originalen waren schon damals wohl etwas zu teuer, man nahm wie heute ähnliche. Aber in den Fünfzigerjahren, zwanzig Jahre später, wird der Blick vom Billardzimmer zum Eingang im Norden wohl genauso ausgesehen haben.
Übrigens gab es auch ruhigere Schachspieler, zuweilen mit Zuschauern.
Damit dann zurück zum Kusseth. Mein sel. Großvater war Stammgast dort, mindestens einmal täglich, manchmal auch zweimal. Man wusste, dass er dort seine »Bürostunde« hielt. (Postcoronal tät’ man sagen: sein Coffee-Office.) Jeder, der mit ihm geschäftlich zu tun hatte, oder ihn nur so treffen wollte, kam also beim Kusseth vorbei. Ich, damals so Zehnjähriger, durfte manchmal mitkommen und bekam dann eine Aranciata oder ein Glas neuentdeckten Joghurts. Chinotto später. Kaffee gehörte sich nicht für ein Kind. Und Joghurt, eine Erfindung, man sagte, aus Bulgarien, gab es neuerdings von den damals noch zahlreichen Molkereien. Es war eine strahlend weiße, stichfeste Masse, oben mit etwas festerer Haut, in einem Gläschen mit aufgedrücktem Alumniniumdeckel. Auch Milchflaschen waren so gedeckelt, und ebenfalls aus dickem Glas. Marmeladezumischungen gab es nicht; man konnte die noch nicht länger im Joghurt in Schwebe halten.
Fast jeden Monat ging Großvater noch zur Bank in der parallelen Postgasse an der Pfarrkirche, ins Banco di Roma, wo er sein Kontokorrent hatte. Nun wurden die Konten damals noch von Hand, ohne Computer und ohne Rechenmaschine geführt; Großvater hatte zuhause eine Kopie, ein großes eigenes Kontokorrentbuch, und da fand er öfters Rechenfehler, die er in der Bank korrigieren ließ. Am Waltherplatz kaufte er seine New York Herald Tribune mit den Börsenberichten aus New York. Abends trug er dann in sein Heftl die aktuellen Kurse nach. Für Großmutter gab’s den Reader’s Digest und für mich einen Topolino, der ja aus dessen Format entstanden ist. Mehr hier.
»Opapa« schrieb Notizen immer mit Bleistift, und zwar mit kurzen Stummeln, die gut und unauffällig in die Westentasche passten, obendrauf zum Schutz eine Hülle aus Blech mit einem Klemmring zum Festsetzen. Stummelbleistifte gab es billig auf dem Weg beim Amonn am Rathausplatz. Gespitzt hat Großvater die Bleistifte mit dem Federmesser; er hatte immer eins dabei, meist an einer dezenten Kette. Mehr dazu separat im Blog.
So, das war meine Kusseth-Geschichte.
Permalink hierher http://j.mp/fj3n5IKsu
= https://blogabissl.blogspot.com/2020/12/kaffe-kusseth.html
»Es war eine andere Zeit, als Literaten und Denker in den Prager Cafés
die Stunden verstreichen liessen, disputierten, sich betranken, Pläne
wälzten und die Liebe suchten. Was ist von diesen berühmten Häusern
geblieben?« – Lesen Sie die Buchbesprechung über Hartmut Binders Bildband »Gestern abend im Café« über die Kaffeehäuser in Prag, Vitalis-Verlag, etwa achtzig Euro. Zur Besprechung in der Neuen Zürcher Zeitung: https://www.nzz.ch/reisen/auf-der-suche-nach-der-versunkenen-welt-der-prager-kaffeehaeuser-ld.1650574 , zum Bildband: https://www.vitalis-verlag.com/gestern-abend-im-cafe/ »… wie in Wien, so waren auch in Prag diese Institutionen temporäre Herbergen für alle, die nicht zu Hause und doch irgendwie daheim sein wollten.«Das Prager Café Louvre hat geöffnet seit 1902.
Bild Imago
Wenn Sie mögen, lesen Sie auch meine Gedanken zur »Reichskristallnacht« und zu Juden in Prag: https://blogabissl.blogspot.com/2020/11/reichskristallnacht.html
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